Zermahlen von den Mühlen des DDR-Regimes – Das Schicksal des Müllers Arthur Schüler

Ein Erinnerungsbericht seiner Tochter Annemarie Nadler, geb. Schüler

Wenn ich an meinen Vater Arthur Schüler denke, dann sehe ich ihn noch vor mir – aufrecht, schweigsam und voller Sehnsucht nach seiner Heimat: Kloster Zinna. Ein Mann, dem das Schicksal alles nahm, außer seiner Würde. Er war kein Held der Geschichte, aber ein stiller Kämpfer gegen Unrecht. Einer, der von den Mühlen des DDR-Regimes nicht nur buchstäblich, sondern auch politisch zermahlen wurde.

Geboren wurde mein Vater in eine Müllerfamilie. Schon sein Vater und dessen Vater, ebenfalls Arthur, betrieben die Windmühle in Kloster Zinna, die durch Heirat mit der Müllertochter Marie Elisabeth Scheer seit Generationen in Familienbesitz war. Ich war noch sehr klein, noch nicht in der Schule, als mir mein Vater das Mühlengebäude von innen zeigte. Rechts neben dem Eingang der Mühle befand sich ein kleiner Wohn- und Ruheraum. Er arbeitet oft auch nachts. Wir fuhren mit einer Plattform aus Holz (Aufzug), die mit einem Seil hochgezogen wurde. Ganz oben in der Mühle schauten wir durch ein Fenster nach unten und sahen unser Haus und Garten.

Mein Vater erlernte das Müllerhandwerk, aber er machte nicht den Meister, deshalb stellte er einen Müllermeister ein. Im Sommer stand vor der Mühle eine Dreschmaschine.

Arthur Schüler mit seiner Kutsche, mit der er eine kleine Spedition betrieb.
Arthur Schüler unternimmt mit seiner Familie eine Kutschfahrt.


Ich erinnere mich an eine kleine Anekdote aus seiner Kindheit: Bei Filmaufnahmen an der Mühle sollten er und seine Schwester in holländischen Holzschuhen mitspielen. Während seine Schwester mutig mitmachte, zog er sich schüchtern zurück. Diese Mischung aus innerer Stärke und Zurückhaltung zog sich durch sein ganzes Leben.

Neben der Mühle betrieb mein Vater eine kleine Landwirtschaft und eine Spedition nach Grüna. Er war ein fleißiger, ordentlicher, beliebter Mann. Doch in der DDR wurden Privateigentümer zunehmend zum Feindbild. Als die Mühle Reparaturen nötig hatte, verschärfte sich die Lage. Ihm wurde die nötige Dachpappe für die Eindeckung der Mühle verweigert – das Material war knapp und staatlich streng kontrolliert. Ein Umstand, der verhängnisvoll werden sollte.

Drei Zentner Roggen wurden von eingedrungenen Regen durch eine undichte Stelle im Dach in Mitleidenschaft gezogen. Die Feuchtigkeit führte zur Anklage wegen eines sogenannten Wirtschaftsverbrechens. Ein absurdes Urteil – wie sich später herausstellte, war der Roggen nicht verdorben, sondern wurde getrocknet, vermahlen und von der örtlichen Bäckerei weiterverarbeitet. Dies erfuhr mein Vater nach seiner Haftentlassung von Bäckermeister Schröter. Das bestätigte auch der Enkel des Bäckers Schröter mir gegenüber viele Jahre später nochmals. Doch zu diesem Zeitpunkt war die politische Entscheidung längst gefallen: Mein Vater wurde zu zwei Jahren Zuchthaus und zum Einzug seines Vermögens verurteilt. Er hoffte und wartete auf die Wiedervereinigung, die er jedoch nicht mehr erlebte.

Familie Schüler auf dem Feld vor ihrer Mühle.
Arthur Schüler mit seiner Schwester und deren Tochter Bärbel auf dem Feld vor ihrer Mühle.


Ein exemplarischer Fall für die staatlich organisierte Enteignung. Aus dem Müller wurde ein Häftling – und aus unserem Zuhause ein enteigneter Betrieb unter der Regie des VEB. Kurz nach seiner Inhaftierung wies man uns aus unserem Haus, wir bekamen Wohnraum im Obergeschoss des ehemaligen Zollhauses zugewiesen. Meine Mutter erhielt sogar noch Mahnschreiben über die angeblichen Schäden durch das verdorbene Getreide – obwohl längst bekannt war, dass dies nicht zutraf.

Flucht aus der Heimat

Nach einem Jahr wurde mein Vater entlassen. Doch seine Heimat war ihm verloren. Er nahm sofort Arbeit in Jüterbog an. Bald darauf kam eine erneute Forderung nach einer Entschädigungszahlung in Höhe von 5.000 DM (Ost). Die Angst vor erneuter Verhaftung und die Aussichtslosigkeit zwangen ihn zur Flucht. Über Berlin-Ost gelang ihm der Weg in den Westen, wo er sich sofort nach einer Anstellung umsah – wieder als Müller.

Meine Mutter und ich zogen von Kloster Zinna zu meinen Großeltern mütterlicherseits und meiner Tante nach Seegrehna bei Lutherstadt Wittenberg. Wir folgten ihm aber dann drei Jahre später, mit einer Aufenthaltsgenehmigung in den Westen. In Eichstetten am Kaiserstuhl kam mein Vater in ein Übergangslager. Der örtliche Kaufmann Jakob Kaiser schickte uns im Auftrag meines Vaters Pakete nach Seegrehna. Wir stellten dort einen Antrag zum Besuch und Aufenthaltsgenehmigung bei Jakob Kaiser in Eichstetten am Kaiserstuhl in der Bundesrepublik, der genehmigte wurde.

Wir durften die Reise antreten! Wir stiegen in Lahr/Schwarzwald aus dem Zug, dort erwartete uns mein Vater und wir begaben uns in das Übergangslager in Wittelbach (Keis Lahr) zur Aufnahme in die BRD. Bald fand mein Vater eine Stelle als Hilfskraft in einer Mühle in Rust – einem Ort, der damals kaum jemandem bekannt war, heute jedoch als Standort des Europaparks gilt. Dort bekamen wir auch eine Wohnung. Jahre später konnte er in Rheinhausen/Breisgau, dem Nachbarort, durch zinsgünstige Darlehen dort ein Einfamilienhaus bauen.

Blick auf die Schüler-Mühle, welche sich einst in Kloster Zinna befand.
Die Schüler-Mühle befand sich einst an der Ecke Mühlenstraße/Wallstraße.


Trotz allem verlor mein Vater nie den Glauben an die Wiedervereinigung. Oft sprach er von seiner Mühle, seinem Dorf, seinem alten Leben. Die Nachrichten vom Verfall der Mühle, die seine Schwester ihm übermittelte, trafen ihn tief. Es war, als zerbröckele ein Teil seiner Identität mit jeder abblätternden Schindel auf dem Dach.

Späte Rehabilitierung des DDR-Unrechts

Nach der Wende reichten wir – Annemarie und Ernst Nadler – einen Antrag auf Rückübertragung des enteigneten Eigentums ein. Doch dafür musste zuerst das alte Urteil aufgehoben werden. Erst 1994, über vierzig Jahre später, wurde es vom Landgericht Potsdam annulliert. Die Nachricht kam kurz vor Weihnachten – ein symbolischer Moment, der alte Wunden aufriss und zugleich etwas Frieden brachte.

Heute besuchen wir regelmäßig Kloster Zinna, das Dorf meiner Eltern, die Mühle meines Vaters, den Ort meiner Geburt. Auf dem Friedhof hinter der Klosterkirche fanden wir das Doppelgrab meiner Vorfahren – Großeltern und Urgroßeltern ruhen dort unter einem Kreuz mit denselben Namen: Arthur und Marie Schüler. Ein Ort des Gedenkens, den ich mit Stolz pflege.

Das Familiengrab mit Grabstein der Familie Schüler auf dem Friedhof in Kloster Zinna.
Das Familengrab der Familie Schüler auf dem Friedhof in Kloster Zinna.


Arthur Schüler war kein lauter Mann. Aber sein Leben erzählt viel über die leisen Tragödien des 20. Jahrhunderts. Über die Willkür eines Staates, der seine Bürger nicht nach ihrer Arbeit, sondern nach ihrem Besitz beurteilte. Und über die Hoffnung eines Mannes, der trotz aller Entwurzelung nie aufhörte, an Gerechtigkeit zu glauben. Immer wieder betonte er wie wichtig es ihm sei in einer Demokratie, die die persönliche Freiheit und Menschenwürde achtet, leben zu dürfen.

Er erzählte mir oft, wie sehr man es schätzen muss, in einer Demokratie zu leben.

Ein Beitrag zum Gedenken – von seiner Tochter, in tiefer Dankbarkeit.

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